Kinderverschickung im Schwarzwald: Trauma und Missbrauch aufgedeckt

Erinnerungen an traumatische Sommerferien: Wie das Verschicken in Heime Kinderleben in den 70ern prägte. Einblicke und Berichte.
Erinnerungen an traumatische Sommerferien: Wie das Verschicken in Heime Kinderleben in den 70ern prägte. Einblicke und Berichte.

Bettina Rosenberger, eine Frau aus Fellbach, trägt schmerzhafte Erinnerungen an die Sommerferien 1975 in einem Erholungsheim im Schwarzwald mit sich. Als sie damals zwölf Jahre alt war, erlebte sie eine Zeit, die ihr Leben nachhaltig veränderte. Das Heim, das als eine Art Gesundheitsmaßnahme gedacht war, entpuppte sich für sie als eine Art Gefängnis, in dem strenge Regeln herrschten und jede Form der Freiheit eingeschränkt war. Sie berichtet von einem gnadenlosen Regime, in dem selbst der Gang zur Toilette streng überwacht wurde.

„Wer beim Tuscheln erwischt wurde, musste zwei Stunden auf dem kalten Flur stehen“, erzählt sie. Sie musste unter anderem fettige und ungenießbare Mahlzeiten ertragen. Briefe an ihre Eltern wurden zensiert, sodass sie niemals wahrheitsgemäß über die Zustände im Heim berichten konnte. Nachdem sie aus diesem Ort zurückgekehrt war, fühlte sie sich nicht mehr wie das fröhliche Kind, das sie einmal gewesen war. Stattdessen kehrte sie «stumm und traurig» zurück, geprägt von einem Gefühl der Angepasstheit, das sie seitdem nie wirklich abgelegt hat.

Die Dunkle Vergangenheit der Verschickungskinder

Die Erlebnisse von Rosenberger sind kein Einzelfall. Schätzungen zufolge waren in Baden-Württemberg rund eine Million Kinder von dieser Form der sogenannten «Verschickung» betroffen, die vom Ende der 1940er Jahre bis in die 1990er Jahre stattfand. Über 50 Prozent der Verschickungskinder erlitten demnach Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch, so die Ergebnisse einer Projektgruppe des Landesarchivs, die diesen dunklen Teil der Geschichte aufgearbeitet hat.

Die Verschickungspraktiken wurden oftmals als gesundheitliche Maßnahme gerechtfertigt. Kinder, die als zu dünn oder chronisch krank galten, wurden von Ärzten in diese Heime geschickt, die von einer Vielzahl von Trägerschaften betrieben wurden, darunter kommunale Einrichtungen und Kirchen. In einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren hat die Forschungsgruppe mehr als 100 Betroffene wie Bettina Rosenberger befragt und die Zustände in rund 470 Einrichtungen dokumentiert, die in dieser Zeit in Baden-Württemberg existierten.

„Die Heime waren chronisch unterfinanziert. Die staatliche Aufsicht war minimal“, erklärt Projektleiter Christian Keitel bei der Präsentation der Erkenntnisse in Stuttgart. Viele Kinder berichteten von Schlägen, Essenszwang oder sogar sexualisierter Gewalt. Telefongespräche in die Freiheit, sprich nach Hause, waren praktisch nicht erwünscht, und das führte oft dazu, dass sich die Kinder isoliert fühlten und ihnen die Möglichkeit genommen wurde, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

„Die Kinder hatten schreckliche Angst, viele dachten, sie kommen gar nicht mehr zurück nach Hause“, so Keitel weiter. Die Fälle von Missbrauch und negativen Erfahrungen wurden lange Zeit nicht in der Öffentlichkeit thematisiert oder ernst genommen. Erst in den letzten Jahren rücken diese Missstände mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft. Corinna Keunecke, Projektmitarbeiterin, hebt hervor, dass viele der Betroffenen ihrer Zeit keinen Raum gegeben wurde, um über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Neue Wege zur Heilung

Für Bettina Rosenberger musste viele Jahre vergehen, bevor sie ihren Erfahrungen eine Stimme geben konnte. Als sie am Stuttgarter Bahnhof von ihrem Vater abgeholt wurde, brach sie in Tränen aus, was bei ihm den Eindruck erweckte, sie sei traurig, dass der Aufenthalt im Heim zu Ende ging. „Ich wollte ihnen kein schlechtes Gewissen machen. Sie konnten ja nichts dafür“, reflektiert sie über die schwierige Kommunikation in ihrer Familie.

Die Aufarbeitung ihrer Erlebnisse begann erst viel später in ihrem Leben. Seit 2021 ist sie Teil einer Selbsthilfegruppe für Verschickungskinder, die ihr sehr bei der Verarbeitung hilft. Diese Gemeinschaft trägt dazu bei, das Trauma zu bewältigen und die Opferrolle hinter sich zu lassen. „Es ist wichtig, sich zu öffnen und über das Leid zu sprechen“, meint Rosenberger.

Die Ergebnisse der Forschungen und die Geschichten der Betroffenen legen einen düsteren Schatten auf die vermeintliche Hilfe, die durch die Erholungsheime angeboten wurde. Auch eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart, die bis zum 6. Dezember zu sehen ist, bietet einen Einblick in die verschiedenen Heime und die dort herrschenden Bedingungen. Es bleibt abzuwarten, wie die Gesellschaft auf diese historischen Erkenntnisse reagiert und ob die Stimmen der Betroffenen Gehör finden.

Für viele der betroffenen Verschickungskinder sind die Erlebnisse nach Jahrzehnten immer noch präsent, und die Frage nach Gerechtigkeit steht im Raum. Ein Licht auf diese dunkle Geschichte zu werfen, könnte helfen, ähnliche Missstände in Zukunft zu verhindern. Weitere Details zu den von der Projektgruppe erarbeiteten Ergebnissen und den Erlebnissen der Verschickungskinder sind in einem aktuellen Artikel auf www.welt.de zu finden.