Ich dachte, Astronauten müssten Übermenschen sein

Köln / Paris. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt sucht die europäische Weltraumagentur Esa nach neuen Astronauten. Es geht nicht um Übermenschen, sagt der deutsche Astronaut Alexander Gerst, bekannt als „Astro-Alex“, in einem Interview mit der deutschen Presseagentur. „Im Gegenteil. Es hilft nicht einmal, wenn Sie ein besonderes Supertalent haben.“
Frauen sollten nicht entmutigt werden
Als Sie sich 2008 bewarben, gingen Sie nach Ihren eigenen Worten davon aus, dass Sie nicht akzeptiert würden. Warum das?
Ich dachte, Astronauten müssten Übermenschen sein – und mir war klar, dass ich andererseits nur ein Mensch bin (lacht). Ich kannte auch die Statistiken. Tausende von Menschen bewerben sich, aber nur vier bis sechs werden ausgewählt. Es wäre sehr arrogant zu denken: „Natürlich kann ich das“. Es geht vielmehr darum, Ihrem Traum eine faire Chance zu geben. Ein Blick auf frühere Astronauten kann entmutigend sein, anscheinend hauptsächlich auf Frauen: 2008 war nur ein Sechstel der Bewerber weiblich. Das wollen wir ändern.
Mit einer Quote?
Esa ist auch rechtlich ein Arbeitgeber mit Chancengleichheit. Wir können nicht einfach eine Quote einführen. Wir möchten jedoch viel mehr Frauen ermutigen, sich zu bewerben, um unser Team vielfältiger zu machen. Jung oder Alt, Mann oder Frau: Wir können es uns einfach nicht leisten, nur einseitige Besatzungen zu fliegen. Während meiner Missionen im Weltraum habe ich die Unterschiede zwischen den einzelnen Besatzungsmitgliedern als sehr positiv empfunden. Es geht nicht nur um Repräsentation – ich bin nicht als „der Mann“ geflogen und meine Kollegen auf der ISS waren nicht „die Frauen“. Das wäre eine falsche Denkweise. Es geht um Vielfalt in Erfahrungen und Persönlichkeiten. Unterschiede machen ein Team besser.
Vielfalt als Chance – auch ohne Quote
Wer ist der ideale Bewerber?
Es mag seltsam klingen, aber ein Bewerber mit durchschnittlichen Fähigkeiten in allen wichtigen Bereichen ist oft der beste Kandidat. Es geht nicht darum, bereits alles zu wissen oder zu können, sondern darum, wie schnell Sie neue Dinge erwerben können. Jeder von uns hat in diesem Job neu angefangen. Um es ganz klar auszudrücken: Wir suchen keine Supermenschen und Superfrauen. Andererseits. Es hilft nicht einmal, wenn Sie ein besonderes Supertalent haben. Das Wichtigste ist vielmehr, in einem wichtigen Bereich keine besonderen Schwächen zu haben.
Esa sucht auch explizit nach einem Astronauten mit einem gewissen Grad an körperlicher Behinderung. Was ist der Hintergrund dieses Programms namens „Parastronaut“?
Wir brauchen eine gute Repräsentation der Gesellschaft im Astronautenkorps. Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderungen einen Gefallen zu tun. Aber dass wir Vielfalt als Chance sehen. Vor 20 Jahren habe ich viel mit Menschen mit Behinderungen beim Deutschen Roten Kreuz gearbeitet und habe großen Respekt vor ihnen, unter anderem, weil sie gut mit Schwierigkeiten umgehen können. Und wir können wirklich gute Problemlösungsstrategien in Raumflügen anwenden, das habe ich aus meinen Missionen gelernt.
Keiner von uns ist dafür gebaut, in Schwerelosigkeit zu leben. Auch Menschen mit gesunden Füßen haben dort ihre Nachteile. Warum nehmen Sie dann nicht Menschen mit, die dieses Gefühl der Erde kennen und besser damit umgehen können? Wir wissen nicht, wo diese Grenze liegt. Aber wir wollen mit einem offenen Ende schauen, wo es sein könnte. Bisher haben wir vielen diese Gelegenheit nicht gegeben und sie ausgeschlossen, ohne zu analysieren, ob sie doch funktionieren könnte.
Im Jahr 2022 wird ein europäischer Astronaut einen Aufklärungsflug zum Mond starten. Die Raumschiffe werden gebaut. Bist du dabei?
Ein faszinierendes Abenteuer. Aber es ist noch nicht klar, wer mit dir fliegen wird. Alle erfahrenen Astronauten im europäischen Korps sind dafür prädestiniert, und ich stehe weiterhin für Missionen zur Verfügung. Als Astronaut möchte ich natürlich fliegen, das ist mein Job.
Sei Teil einer großen Mission als Astronaut
Sie waren zweimal auf der Internationalen Raumstation. Man liest, dass die ISS kurz vor der Stilllegung steht. Wie ist der Zustand?
Man muss unterscheiden. Es gibt ältere und neuere Module. Das europäische Forschungsmodul Columbus von 2008 zum Beispiel ist wie neu, es wird ständig modernisiert und wir forschen mehr denn je. Und die NASA hat gerade neue Solarzellen zur ISS geflogen – das würden Sie nicht tun, wenn Sie die Station bald aufgeben würden. Es gibt viele Missverständnisse. Die europäischen Partner haben sich bis 2024 für die Finanzierung entschieden – aber nicht, weil die ISS dann versenkt wird. Aber weil die Finanzierung immer für drei Jahre entschieden wird. Natürlich muss man sehen, welche Komponenten in Zukunft ausgetauscht werden müssen. Das russische Servicemodul zum Beispiel ist seit über 20 Jahren im Weltraum und weist derzeit ein kleines Leck auf, das schwer zu finden ist. Es ist nicht direkt gefährlich für die Besatzung, aber Sie müssen mehr Luft nach oben schicken.
Was vermissen Sie am meisten – die Aussicht aus 400 Kilometern?
Nicht nur das Aussehen, sondern auch die Perspektive. Der Fokus liegt auf unserem blauen Planeten. Die Perspektive beinhaltet aber auch das Bewusstsein, wo ich bin. Ein Teil unserer Verantwortung für eine solche Mission besteht darin, diese Perspektive mit den Menschen auf der Erde zu teilen. Ich bin auch fasziniert von dem Wissen, an einem globalen Projekt zu arbeiten. Die ISS hat Krisen überstanden und inspiriert Menschen zum Träumen. Die Tatsache, dass die internationalen Partner mir und damit uns Europäern während meiner zweiten Mission die Führung der ISS anvertrauten, zeigt das große Vertrauen zwischen den Partnerländern. Von Zeit zu Zeit vermisse ich eine weitsichtigere Perspektive im Umgang mit unserem Planeten und den Menschen hier unten auf der Erde.
Über die Person: Alexander Gerst (44) studierte Geophysik in Karlsruhe und forschte in Neuseeland, der Antarktis und an der Universität Hamburg. Er sagt, dass er nicht daran gearbeitet habe, Astronaut als einziges Ziel zu werden. Mit seiner Bewerbung bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa wollte er jedoch „seinem größten Traum eine Chance geben“. Der in Künzelsau in Baden-Württemberg geborene Gerst setzte sich gegen mehr als 8.400 Mitbewerber durch. Der Mann mit dem rasierten Kopf flog 2014 und 2018 ins All.
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