Dankesrede von Maria Stepanova
Hochverehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Jury, liebe Gäste,
heute, hier und jetzt, vor Ihnen zu stehen in diesem wunderbaren Raum, ist mehr als eine Ehre. Es bedeutet Hoffnung. In den dunkelsten Zeiten passiert es manchmal, dass die Hoffnung das Einzige ist, was uns bleibt – das Einzige, was uns vom Untergang trennt, von der moralischen und metaphysischen Nichtexistenz. Es kann einzelne Menschen, menschliche Gemeinschaften, ganze Gesellschaften treffen. Umso dankbarer sind wir, wenn sich herausstellt, dass wir in der Dunkelheit nicht allein sind. Wir werden gesehen und gehört, unsere Stimmen können etwas bewirken – jemand will verstehen, was wir sind, jemand muss verstehen.
Meine Stimme kann gehört werden, und dafür bin ich unendlich dankbar – dankbar denen, die alles getan haben, um sie im deutschsprachigen Raum wahrnehmbar zu machen: meinem Verlag Suhrkamp und meiner wunderbaren Lektorin Katharina Raabe, meiner unglaublichen Übersetzerin Olga Radetzkaja und der großartigen Ilma Rakusa – jenen, deren Anwesenheit mich heute glücklich macht. Mein Dank gilt denen, die meine Bücher gelesen und über sie geschrieben haben, und weitergefasst dem deutschen Kulturkreis, der die lebendige Auseinandersetzung mit Texten in anderen Sprachen und aus anderen Ländern zu einem selbstverständlichen, notwendigen Teil des täglichen Lebens macht. Und natürlich den Experten und der Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung – jenen, die in diesem Jahr, dem zweiten Jahr der groß angelegten russischen Aggression gegen die Ukraine, ihre Entscheidung getroffen haben. Dies ist nicht nur eine mutige und barmherzige Geste – es ist ein Aufruf zu Verständigung und Differenzierung.
Ich bin durch meine Geburt und meine Staatsangehörigkeit mit einem Land verbunden, das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen – zurück zu einem Punkt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem die Sprache des Hasses versucht hatte, universell zu werden. Auch ich gehöre zu denen, die in russischer Sprache schreiben und die versuchen, sie im Namen der Zukunft neu zu gestalten – und wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen tue ich mein Bestes, um mich den Kräften zu widersetzen, die unsere Sprache als Instrument der Gewalt und des Todes missbrauchen. Ich glaube, dass die Zukunft einer jeden Sprache in ihrer Vielfalt und Unvollständigkeit liegt, in der Tatsache, dass sie nie ganz zu einem Staat, einer Landschaft oder einer Ethnie gehört und sich mit jedem, der sie in irgendeinem Land der Welt sprechen oder schreiben möchte, verändert und erneuert. Aber was mich besonders beeindruckt und bewegt hat an der Entscheidung der Jury – einer Entscheidung, die, ich wiederhole es, in einem schwarzen Jahr Europas, in einem Jahr der Verwüstung, der Angst und des Verlustes getroffen wurde – ist, dass der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung in diesem Jahr zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband, für eine poetische Aussage verliehen wird.
Was bedeutet das für mich, für Sie, für uns, für diejenigen von uns, die sich heute den Texten, den Buchseiten zuwenden und hoffen, dort die Möglichkeit von etwas Neuem zu finden – etwas, das auch uns erneuern wird? Könnte es sein, dass sich Gedichte – mit ihrem begrenzten Publikum, ihren kleinen Auflagen, ihrer besonderen Sicht auf die Welt und ihre Wunder – als wichtig, ja sogar notwendig erweisen, und zwar gerade in Zeiten von Katastrophen? Gewissermaßen ist die Lyrik heute inmitten all des Schmerzes und der Taubheit die Entität, die immer wieder Fragen stellt, die uns immer wieder an die Existenz des Anderen erinnert, an die Notwendigkeit der menschlichen Verbindung, der europäischen Verständigung, der Verständigung im Allgemeinen – und an die Nichtendgültigkeit der Niederlage.
Es ist eine uralte Eigenschaft der Lyrik, dass ihr klangliches Wesen ihr ein langanhaltendes Echo verleiht. Keine einzige Gedichtzeile existiert in völliger Einsamkeit, keine Zeile wird jemals ohne Antwort geschrieben – sie ist Frage und Antwort zugleich, sie widerspricht dem, was andere Dichter, Vorgänger und Zeitgenossen gesagt haben und zweifelt nicht daran, dass sie gehört wird und in die Zukunft hineinreicht. Wie genau? Wer weiß. Vielleicht als Bruchstück, als Zitat, als Beispiel in einer Anthologie, als Begriff aus einer toten Sprache, zu der sich kein Schlüssel mehr finden lässt. Aber meist gelangen Gedichte in die Zukunft wie tote Gräser in den Boden – sie werden zu Humus, zu Erde, zu dem Stoff, aus dem die Texte anderer Leute wachsen. Gedichte tun nichts weiter als das: Sie sprechen miteinander, sie antworten und korrespondieren, sie reimen und zitieren. Sie werden Teil eines großen, weltweiten Gesprächs, das niemals endet, auch wenn diese oder jene Sprache verstummt oder verblasst.
Das klingt tröstlich, aber auch hoffnungslos. Wir wissen gut genug, dass Lyrik nichts bewirkt. Diese Zeile von Auden wird sogar von denen zitiert, die normalerweise keine Gedichte lesen – und das nicht ohne Grund. Sie zeigt uns das ganze Ausmaß der menschlichen Enttäuschung (über uns selbst, über unseresgleichen, über die Menschheit im Allgemeinen) im katastrophalen 20. Jahrhundert. Heute, wo niemand mehr so tun kann, als lebe er in einer post-katastrophischen Zeit – die Katastrophe ist wieder da, sie ist in unseren Köpfen und in unserem Leben allgegenwärtig -, fühlt sich dieses Eingeständnis unserer eigenen Ohnmacht niederschmetternd an. Sie war immer da, die Katastrophe, aber für viele von uns schien es so, als könne die kleine europäische Welt sicher und geschützt bleiben. Jetzt kann sie niemand mehr ignorieren. Was ist von der Lyrik zu erwarten? Hat sie heutzutage noch einen Nutzen? Können Gedichte überhaupt irgendwie helfen, Katastrophen verhindern, uns zu besseren Menschen machen, etwas bewirken? Alles, was sie je tun können, ist die Arbeit des Bezeugens und des Trauerns – aber reicht das überhaupt?
Audens Zeilen wurden 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, geschrieben. Fast zeitgleich mit ihm forderte der russische Dichter Daniil Charms, man solle so schreiben „dass, wenn man ein Gedicht durch ein Fenster wirft, das Glas zerbricht.“ Charms selbst starb im Februar 1942 im belagerten Leningrad in einer Gefängniszelle den Hungertod. Und die Lyrik hat ihn nicht gerettet – weder seine eigenen Gedichte, noch die Audens, noch die große Masse der Gedichte, die die Menschheit bis zu diesem Tag geschrieben hatte. Das Fenster zerbrach nicht, das Gefängnis blieb unversehrt.
Ebenso haben Gedichte, die in unseren Tagen oder damals oder zu irgendeinem Zeitpunkt geschrieben wurden, Butscha und Mariupol nicht verhindert – und auch nicht die Bombardierung ukrainischer Städte und zahllose neue Tote. Während ich in meinem Russisch schreibe und denke, töten die russischen Truppen die Ukrainer, die Ukrainisch sprechen – und auch die Ukrainer, die Russisch sprechen. Die Sprache der Gewalt ist international. Um sie zu beherrschen, genügt es, sich zu weigern, die anderen Menschen zu hören und zu verstehen.
Während ich jetzt zu Ihnen spreche, verbüßt Juri Dmitrijew, der Historiker und Leiter von Memorial in Karelien, der Mann, der die Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart übersetzt hat, eine 15-jährige Haftstrafe in einem russischen Lager. Unter den vielen anderen politischen Gefangenen, die wegen der Teilnahme an einer Protestkundgebung, der Unterzeichnung einer Petition oder der Veröffentlichung eines Witzes inhaftiert wurden, befindet sich auch Alexej Moskalev, der wegen seiner 12-jährigen Tochter, die im Unterricht eine Antikriegskarikatur gezeichnet hatte, zu zwei Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt wurde. Das Mädchen kam in ein Waisenhaus, ihr Vater ins Gefängnis. Die Sprache der historischen Fakten ist für den russischen Staat ebenso gefährlich wie die Sprache der Bilder, so dass beide illegal werden. Demokratische Wahlen und eine unabhängige Presse gehören nicht mehr zum Alltag, sondern werden als kriminelle Aktivitäten wahrgenommen. Die Sprache, die der russische Staat spricht, ist die Sprache der Bürokratie und des Diebstahls, die Sprache der Polizeiprotokolle und der Gerichtsurteile, die dumpfe Sprache der ständigen Gewalt, die versucht, jede Möglichkeit einer Zukunft auszulöschen.
Ich spreche und schreibe in einer Sprache, die ihr eigenes Leben zusammen mit dem Leben anderer auslöscht.
Paul Celan hat vor vielen Jahren in seiner Bremer Rede darüber gesprochen, wie und um welchen Preis er sich die deutsche Sprache bewahrt hat, seine Muttersprache im unmittelbarsten Sinne des Wortes: die Sprache seiner Mutter, die ihm in die Wiege gelegt wurde, ohne Zweifel und Vorbehalte. Dieselbe Sprache, die zur Zerstörung seiner Familie und der Welt, die ihn umgab, beitrug – teilweise zum Mord an seiner Mutter. Dies war auch die Sprache, in der Celan weiterschrieb – und hatte er jemals eine Wahl? Wie er sagt: „Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies Eine: die Sprache.“ Sie war alles, was er noch hatte: eine Sprache, die dekonstruiert, gereinigt und gerettet werden musste, eine Sprache, die Hilfe brauchte, um zu sich selbst zurückzufinden.
„Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. Aber sie ging durch dieses Geschehen.“
Diese Worte wurden vor fünfundsechzig Jahren geschrieben, und ich werde sie jetzt auf Russisch wiederholen, wunderschön übersetzt von Boris Dubin – in meiner Muttersprache, wie ich sie einst in Moskau gelesen habe, in einer anderen Zeit. „Язык – наперекор всему – уцелел. Однако ему пришлось пройти через собственную беспомощность, пройти через чудовищную немоту, пройти через бесконечные потемки речи, несущей смерть“. Deutsch war nicht die erste und nicht die letzte Sprache, die durch Stummheit, durch zahllose Verfälschungen, durch Unmöglichkeit der Sprache gehen musste, um etwas Neues zu werden.
Aber ich bin heute nicht in einer Situation, die mit der Celans vergleichbar ist. Für viele ukrainische Dichter, die auf Russisch schreiben, stellt sich nun die Frage der Wahl. Ihre Heimatsprache entpuppt sich als die Sprache des Feindes, als Idiom des Todes, als Eindringling. Einige von ihnen beschließen, sie aufzugeben und von nun an auf Ukrainisch zu schreiben. Das ist ein großer Schritt, und ich kann mir den Schmerz, der dahintersteht, kaum vorstellen.
Was aber tun, wenn man keine solche Wahl hat? Was aber tun, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird? Was, wenn sie wie in einem Laborversuch absichtlich mit dem tödlichen Virus der Vergangenheit infiziert wird – und sich so die Krankheiten der Vergangenheit eine nach der anderen wie Pest, Lepra, Pocken über die Welt ausbreiten? Sind wir jetzt dazu verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben, seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und Flächenbombardements? Was tun, wenn das Gewebe der Sprache, ihre Textur, plötzlich durchsichtig wird und man all die verborgenen Schichten latenter und offener Gewalt sieht, die in ihr liegen und nach außen drängen? Das Einzige, was vielleicht hilft, ist zu wissen, dass ich nicht allein bin. Die Arbeit des Verstehens wird, wie die Arbeit der Lyrik, nie allein getan.
Celan gefiel ein Bild, das er von Ossip Mandelstam, einem Dichter, den er liebte, entliehen hatte: eine Flaschenpost, adressiert an eine Person, die noch nicht existiert, eine Nachricht, die ins Unbekannte geschickt wird – in der Hoffnung auf Aufmerksamkeit (eine wichtige Kategorie für Celan) und Verständnis. Die schwerelosen Fäden des Verstehens, die sich irgendwie, leise, ganz langsam zwischen Texten, zwischen Sprachen, zwischen gähnenden Leeren spannen – sie halten noch immer unsere Welt zusammen, werden dichter, knüpfen Beziehungen, stellen Verbindungen her und flicken das zerrissene Gewebe.
Aufmerksamkeit und Verständnis – das scheint nicht viel zu sein. Aber wenn man es genau bedenkt, gibt es nichts Wichtigeres für unsere Worte – oder für uns selbst. Jetzt, da die russische Sprache zunehmend diasporisch wird – eine Sprache der Vertreibung, des Exils und der Zerstreuung -, muss sie keine Norm mehr darstellen und keine Angst vor Veränderungen, Störungen und Unvollkommenheiten haben. Sie wird im vielstimmigen mehrsprachigen Raum leben, zusammen mit Belarussisch und Arabisch, Farsi und Türkisch, Deutsch und Armenisch, und sich zwischen Welten und Grenzen hin und her bewegen. Alles, was wir brauchen, ist die Hoffnung, das Gespräch weiterzuführen – an der universellen Verständigungsarbeit teilzunehmen, vom Lokalen ins Weltweite übersetzt zu werden. Wie Sie sich erinnern, sah Paul Celan kaum einen Unterschied zwischen Gedicht und Händedruck, zwischen Gedanke und Dankbarkeit, Denken und Danken. Ich bin allen, die sich heute hier versammelt haben, zutiefst dankbar – für die seltene Freude des gemeinsamen Denkens, über die Sprachen hinweg, über die Gedichtzeilen hinweg – und für die Tatsache, dass man selbst in den dunkelsten Zeiten ein Gedicht mit einem Händedruck beantworten kann.