Haftbefehl-Doku: Schockierende Einblicke oder oberflächliche Dramatik?
Eine neue Doku über Haftbefehl beleuchtet seinen Werdegang in Offenbach und kritisiert die oberflächliche Darstellung seiner Themen.

Haftbefehl-Doku: Schockierende Einblicke oder oberflächliche Dramatik?
Die Welt des Raps wird derzeit von einer neuen Dokumentation über Haftbefehl, besser bekannt als Aykut Anhan, im Streamingdienst Netflix beschäftigt. Diese Doku trägt den Titel „Babo: The Haftbefehl Story“ und hat in kurzer Zeit hohe Klickzahlen erzielt. Martin Seeliger, ein Arbeitssoziologe und Autor, hat sich in einem Interview zu den Schockmomenten und der Darstellungsweise der Doku geäußert. [Freitag] berichtet, dass Seeliger vor allem die Neigung zur persönlichen Ebene kritisiert, die den Zuschauer in die inneren Konflikte des Künstlers hineinzieht. Bei so viel Drama vermisst Seeliger jedoch den notwendigen Kontext, insbesondere wenn es um Haftbefehls Aufwachsen in Offenbach in den 90er und 2000er Jahren geht.
Die Dokumentation beschränkt sich auf schockierende Szenen, was laut Seeliger eher oberflächlich wirkt. Besonders die Darstellung des Drogenkonsums wird als authentisch wahrgenommen, gleichzeitig bleibt jedoch ein Gefühl der Unvollständigkeit bezüglich des sozialen Umfelds. In einem solchen Kontext wäre es interessant gewesen, mehr über den Alltag im migrantischen Milieu zu erfahren. Die Geschlechterdarstellung wird ebenfalls als traditionell männlich kritisiert, während der Raum für Frauen stark limitiert bleibt.
Ein Blick auf Haftbefehl
Haftbefehl, geboren am 16. Dezember 1985 in Offenbach am Main, entstammt einer türkischsprachigen und nicht praktizierenden alevitischen Familie. Seine Mutter kommt aus Giresun, während sein Vater Zaza-Kurde aus Tunceli ist. Diese kulturellen Hintergründe prägen seinen Werdegang, der von persönlichen Rückschlägen und Verlusten gezeichnet ist. So musste er die Schule abbrechen, nachdem sein Vater im Alter von 14 Jahren Suizid beging. Diese traumatischen Erfahrungen haben ihn nachhaltig geprägt und finden auch ihren Niederschlag in seiner Musik.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Istanbul, wo er wegen drohender Haftstrafe nach seinem Drogenhandel flüchten musste, lebte er in den Niederlanden. Dort entstanden seine ersten Texte, bevor er nach Offenbach zurückkehrte und im Wettgeschäft tätig wurde. Irgendwann gelangte er an seine erste Musikkarriere, als ihm ein Vertrag bei Echte Musik angeboten wurde. Sein erstes Album „Azzlack Stereotyp“ wurde 2010 veröffentlicht und sorgte für einen ersten Aufschwung in seiner Karriere.
Gesellschaftliche Relevanz und Identifikation
In seiner Analyse erkennt Seeliger auch die gesellschaftliche Rolle von Haftbefehl. Dieser wirkt als glaubwürdige Figur für migrantische, prekäre Jugendliche und trifft sowohl das deutsche Bürgertum als auch die junge Zielgruppe. Trotz seiner Popularität glaubt Seeliger nicht daran, dass der Gangsta-Rap politischer wird. Vielmehr sieht er die Szene als Teil eines rechten Kulturkampfes, der die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland beeinflusst. Gangsta-Rap mag Identifikationsangebote bieten, doch führt dies nicht automatisch zu organisiertem politischen Handeln.
Seeliger weist auf die Abneigung vieler Rapper aus der migrantischen Arbeiter*innenklasse hin, sich in Gewerkschaften oder linken Parteien zu engagieren. Hier kommen die Überlegungen des Soziologen Pierre Bourdieu ins Spiel, der betont, dass politisches Denken oft erst nach einem Überlebenskampf möglich ist. Dies wirft ein interessantes Licht auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, die der Rapper und seine Zuhörer:innen im Alltag meistern müssen.
Eko Fresh, ein anderer bekannter Rapper, wird als Beispiel angeführt, der aktuelle gesellschaftliche Themen in seinen Texten behandelt. Seeliger betont, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit diesen Themen in der Doku gefehlt hat. Die Vorstellung vom verletzlichen Mann im Kontext von Haftbefehl bringt schließlich einige politisch fortschrittliche Momente in die Darstellung, trotz der vielfältigen Schwächen, die die Doku aufzeigt.
Zusammenfassend zeigt die Doku über Haftbefehl nicht nur das Leben eines Künstlers, sondern spiegelt auch komplexe gesellschaftliche Themen wider. Die kritischen Anmerkungen von Martin Seeliger laden dazu ein, die dargestellten Inhalte näher zu hinterfragen und den Blick auf die sozialen Realitäten zu schärfen, die den Rahmen für solche Erzählungen bilden. Mehr über die beeindruckende Karriere und die Herausforderungen von Haftbefehl kann man auf Wikipedia nachlesen.