Im Schatten der Mitbrüder - der Kölner Missbrauchsskandal

Berlin. Das Gewissen. Das Gewissen allein entscheidet. Kardinal Rainer Woelki tut es nicht mehr, wenn es darum geht, sich gegen die massive Kritik an seinem Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese Köln zu verteidigen.
Nicht einmal seine katholischen Mitbrüder in der deutschen Bischofskonferenz, die sich heute zu ihrer Frühjahrsplenarsitzung treffen, nehmen ihm diese Verteidigungslinie weg.
Woelkis Entscheidung im Oktober 2020, das Rechtsgutachten einer Münchner Anwaltskanzlei unter Verschluss zu halten – eine Gewissensfrage. Sein Generalvikar Markus Hofmann antwortete auf einen von vielen Protestbriefen der Pfarreien der Erzdiözese: „Von der Verantwortung zu stehlen ist nicht mit unserem Gewissen vereinbar“ mit der Vorlage der angeblich fehlerhaften Studie.
Die Messe verlässt die Kirche
Selbst im Falle des Missbrauchs eines seiner Priesterfreunde, den der Kardinal 2015 weder untersucht noch Rom gemeldet hat, hat Woelki sein Gewissen mit eigenen Worten geprüft, „und ich bin persönlich davon überzeugt, dass ich mich richtig verhalten habe“. Für ein Urteil von höchster Autorität hat er sich an den Stellvertreter Christi, den Papst, gewandt. Eine offizielle Benachrichtigung steht noch aus. Angeblich bezeugt der Vatikan jedoch dem Kölner Kardinal, dem Oberhaupt einer der reichsten und damit mächtigsten Diözesen der Welt, höchstens einen Verstoß gegen die Klugheitsregel, wenn überhaupt.
Der Kardinal und seine Berater wissen sehr gut: Die „Kölner Turbulenzen“ mit einem Lauf am Kirchenausgang des Kölner Amtsgerichts und einem beispiellosen Vertrauensverlust in die Kirche sind nicht von der Welt. Nach wochenlangen Mauern und Beschwörungen einer angeblichen (Medien-) Kampagne gegen einen unpopulären, konservativen Pastor befindet sich der Kardinal nun auf einer Entschuldigungsreise.
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, spricht beim ökumenischen Gebet zu Beginn der Passion. © Quelle: Marcel Kusch / dpa
„Ich habe mir selbst die Schuld gegeben“, schreibt er in seinem traditionellen Hirtenbrief zu Beginn der Fastenzeit und gibt erneut Fehler bei der Bewältigung der Krise und der damit verbundenen Krisenkommunikation zu.
In Auszügen aus dem Münchner Bericht, die unter anderem von der Erzdiözese Köln bekannt gemacht wurden, wird von unentschuldbarem Versagen, mangelnder Fürsorge für die Opfer, Desinteresse und sogar Unkenntnis der Anliegen der Schutzbedürftigen gesprochen sowie wie in einem „totalitären Herrschaftssystem“ zu handeln. Man vermutet, dass die Verantwortlichen so etwas nur ungern über sich selbst lesen.
Ein Verdächtiger konnte den Druck nicht mehr ertragen: Am Wochenende nahm sich ein ehemaliger Priester der Erzdiözese Köln, der in den 1990er Jahren einen Jungen belästigt haben soll, das Leben. Die Erzdiözese selbst leitete den Fall Anfang Februar an die Staatsanwaltschaft weiter.
Unzufrieden mit dem Münchner Bericht gab Woelki einen Ersatzbericht beim Kölner Strafverteidiger Björn Gercke in Auftrag. Das sollte jetzt am 18. März vorgestellt werden. Die ersten Nummern sind bereits im Umlauf. Nach einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers unterscheiden sie sich kaum von der Münchner Erhebung – sind aber mehr als doppelt so hoch wie die ursprünglichen Informationen des Erzbistums aus dem Jahr 2018.
Zu dieser Zeit wurden 87 beschuldigte Geistliche und 135 Opfer benannt. Jetzt sollen 270 bis 300 Opfer und 200 bis 230 Angeklagte angeklagt sein. Ohne detailliertere Erklärungen sind die bloßen Zahlen jedoch nur teilweise aussagekräftig.
Bis zur Vorlage von Gerckes Bericht am 18. März bittet der Kardinal regelmäßig um Geduld. Er verspricht, dass Verantwortlichkeiten für Jahrzehnte der Vertuschung, Unterdrückung, Verschleierung und Missachtung der Opfer identifiziert und Namen benannt werden. Um die „systemischen Zusammenhänge“ aufzudecken, braucht er „eine bestimmte qualitative und quantitative Sachlage in Bezug auf alle relevanten Personen, die dann langfristig klare und konsequente Veränderungsmaßnahmen ermöglicht“, erklärt Woelki in seinem Hirtenbrief. Als ob die fachmännische Darstellung der Tatsachen nie existiert hätte.
Bischöfe wehren sich
Wie groß die Wut über den Mitbruder aus Köln ist, zeigt die Tatsache, dass führende Bischöfe längst bei dröhnender Stille stehen geblieben sind.
Die jüngsten Aussagen von Woelki fallen mit dem Frühjahrstreffen der Bischofskonferenz zusammen. Dies erlebt heute, Dienstag, eine Premiere: Noch nie in der Geschichte der Kirche haben sich die fast 70 Würdenträger online getroffen. Das Thema sexueller Missbrauch und seine Auseinandersetzung steht erneut auf der Tagesordnung der dreitägigen Konferenz. Und Insidern zufolge wird erwartet, dass zumindest einige der Tacheles-Bischöfe mit Woelki sprechen wollen. „Auch für sie“, heißt es, „rennen die Leute wegen Köln weg.“
Der Limburger Bischof Georg Bätzing sagte am Wochenende, dass die „Situation in Köln“ seine Diözese „in erheblichem Maße“ beeinflusst habe. Er meint, „dass in der Öffentlichkeit, in der Kirche und auch bei den Betroffenen die Frage erneut stärker ist: Kann ich ihnen glauben? Kann ich überhaupt zur Teilnahme bereit sein? Scheint mir das glaubwürdig? Mit anderen Worten: Die Situation in Köln belastet den Kampf der katholischen Kirche um Glaubwürdigkeit überall.
Er sagte, dass „als Nachbar“, betonte Bätzing. Aber natürlich ist sein Wort von besonderer Bedeutung, weil er auch Vorsitzender der Bischofskonferenz ist. Und in dieser Rolle hat er in letzter Zeit nicht viel anders über die Ereignisse in Köln gesagt. Es war sogar von einer Katastrophe die Rede.
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx sprach von den „verheerenden“ Folgen „für uns alle“. Er selbst hatte einen Missbrauchsbericht bei der Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben, dessen Arbeit Woelki als „ungeeignet“ abgetan hatte, weil sie rechtlich nicht gültig war.
Das sollte er den Bischöfen vor ihren Bildschirmen grob sagen. Und wenn Sie ihn nach seinen Handlungen fragen, wird er den Kölner Katholiken vermutlich kürzlich in seiner wöchentlichen Videobotschaft auf domradio.de dasselbe erklären: Die Kirche muss der Versuchung widerstehen, ihre Macht für sich selbst einzusetzen, und sich stattdessen für die Opfer von einsetzen sexueller Missbrauch und schätzen ihren „berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit mehr als den eigenen Ruf“. Laut Woelki bedeutet dies, Verantwortung zu übernehmen, die Verantwortlichen zu benennen und die Fehler der Institution klar auszudrücken. „Und wir müssen Missbrauch im Keim mit starker Prävention verhindern.“
Interessant ist, was es nicht bedeutet, Verantwortung zu übernehmen: zurückzutreten.
Es gibt Aufrufe dazu – auch aus den Reihen der Kölner Geistlichen. Der Kölner Stadtdekan Robert Kleine beispielsweise als Mitglied des Domkapitels, das ebenfalls Teil der Diözesanführung ist, bewertet Woelkis bisherige Behandlung des Münchner Berichts öffentlich als Fehler: „Es muss auf die eine oder andere Weise Konsequenzen geben. Ich bin der Meinung, dass es besser ist, mit Entsetzen zu enden als mit Entsetzen ohne Ende. „Die Gläubigen würden durch das Verhalten ihrer Führung“ zermürbt „und“ teilweise gemeinsam verantwortlich gemacht „.
Die sichtbarsten Folgen sind die Ausgänge aus der Kirche. Der Ansturm am Kölner Amtsgericht ist so groß, dass seit Monaten keine Termine mehr vereinbart wurden. Die Behörde erhöhte das Angebot ihrer Online-Buchungen von 650 auf 1000 pro Monat. Als kürzlich weitere 500 Termine für März aktiviert werden sollten, brach der Server zusammen.
Im Kölner Dom. © Quelle: imago images / Schöne Sportarten
Der Akt des Ungehorsams
Der Stadtdekan sagt, dass er im Moment niemanden beschuldigen kann, sich von der Kirche abzuwenden. Durch das Verlassen der Kirche, erklärt der Theologieprofessor Daniel Bogner in Bezug auf Köln, könnten Gläubige ein persönliches Zeichen der Glaubwürdigkeit setzen – im Sinne eines „pastoralen Ungehorsams“ gegen eine Hierarchie, die von jeglicher Legitimation gegenüber der kirchlichen Basis entkoppelt wurde.
In der Weihnachtsmesse hatte Woelki die Gläubigen um Vergebung gebeten – wegen der Kritik, die sie an seiner Person ertragen mussten. Aber der Pastor von Dormagener, Klaus Koltermann, konnte das nicht mehr ertragen: Mit einer solchen Entschuldigung verlor der Erzbischof das letzte Stück Glaubwürdigkeit, schrieb er in Briefen an den Herausgeber und stand hinter Rücktrittsaufrufen an den Kardinal.
In der Zwischenzeit haben Pastoren und Pfarreien Woelki in Reihen Misstrauen geäußert. Der Diözesanrat, der Laienvertreter in der Erzdiözese, kündigte sogar seine Treue: Das Komitee setzte seine Beteiligung an dem von Woelki für die Reform der Diözese und der Pfarrei initiierten „Pastoral Future Path“ aus. Für einen vergleichbaren Aufstand muss man mehr als 700 Jahre in der Geschichte der Diözese zurückgehen.
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